Olympische Sommerspiele in der Waldorfschule
Herrn Warneks Ansprache zu unseren Olympischen Sommerspielen
Schon am Vormittag lag eine brütende Hitze über dem Platz, die Luft flimmerte, jedes Scharren der Füße wirbelte feinen Staub auf. Und nun standen sie beide da, nebeneinander. Ihre bloßen Zehen berührten die Rillen, welche den Anfang der Laufbahn markierten, der Stadie, dieser vielleicht 250 Schritte, wenn ein Mann sie entlang ginge. Aber sie, sie würden laufen. Und einen, einen würden die Götter als Sieger erwählen...
Schon lange hatten sich die Zuschauer auf den Stufen längs der Bahn versammelt, die Männer, die Knaben, die unverheirateten Frauen. Man hörte Worte, Gespräche, Gelächter, Rufe und Geschrei. Aber sie beide, sie standen da ruhig nebeneinander, Fotis und Spiridos, so unterschiedlich, und doch Freunde geworden in diesen letzten Wochen der Vorbereitung.
Fotis kam aus Athen, aus einer vornehmen, einer reichen Familie. Erst bei den vorvorigen Festspielen hatten sie, also seine Familie, das Wagenrennen im Viergespann gewonnen, sein ältester Bruder war, als Besitzer der Pferde, in der ganzen Stadt gefeiert worden. Und nun sollte Fotis an der Reihe sein, den sie so lange „den Kleinen“ genannt hatten, und der doch inzwischen breitschultrig geworden war und alle anderen um einen Kopf überragte.
Spiridos dagegen war der Sohn eines Bauern von der Insel Lefkas im Norden. Dort, zwischen den Bergen, hatte seine Familie einen kleinen Olivenhain und ein Stück trockenes Feld. Schon als Kind war der schmächtige Junge die weiten, staubigen, steinigen Wege zum Markt und zurück gelaufen, barfuß natürlich.
Fotis war mit dem Wagen bis nach Elis gefahren worden, wo sich die Wettkämpfer versammelten und dreißig Tage lang gemeinsam leben und auf den einen, den großen Tag vorbereiten wollten.
Spiridos, sein neuer, ungleicher Freund, war den ganzen Weg zu Fuß gekommen. Nur die Strecke über den Golf von Korinth hatte ihn ein kleines Schiff getragen.
Wen hatten die beiden in diesen Wochen in Elis nicht alles gesehen: Die Ringkämpfer mit ihren Stiernacken, die Diskuswerfer, deren eingeölte Körper wie Bronze glänzten, die Reiter und Wagenlenker, die nicht selten Sklaven waren, welche den Preis für ihre Herren gewannen, und die anderen Läufer natürlich, manche kräftig wie Fotis, manche fast so schmal wie Spiridos...
Nun war die Zeit der Vorbereitung endlich vollendet. Die Priester hatten die Opfer im großen Tempel des Zeus dargebracht. Aller Streit ruhte, das Fest hob an, die Feier zu Ehren der Götter hatten begonnen. Nicht ein Kampf sollte es sein, sondern ein großes Spiel, bei dem sich die Menschen am Anblick derer ergötzten, die sich selber überwunden hatten, sich vorbereitet hatten, sich in der Schönheit der Bewegung über das einfache Menschsein zu erheben.
Am ersten Tag hatten die Knaben ihre Kräfte gemessen, beim Lauf, beim Ringkampf. Wie hatten alle gelacht, als einer der Kämpfer, ein kräftiger, fast dicker Kerl, im Ring ausgerutscht und auf den Rücken gefallen war, so dass er wie ein Käfer mit den Beinen in der Luft strampelte!
Der zweite Tag, für viele der unbestrittene Höhepunkt des Festes, war den Pferderennen auf dem Hippodrom gewidmet und auch dem Fünfkampf. Ohrenbetäubend war manchmal der Lärm der schreienden Zuschauer gewesen und atemberaubend die Schönheit der Werfer und Springer.
Nun aber war der dritte Tag angebrochen und alle erwarteten zum Abschluss den großen Wettlauf, über die volle Strecke von 24 Stadien.
Wen aber würden die Götter dieses Mal auserwählen, wen würden sie gleichsam auf Schwingen über die Laufbahn tragen und als Ersten über die Ziellinie?
Die Zuschauer verstummten kurz, gleich sollte das Rennen beginnen, und niemand der Läufer würde sich zu früh bewegen und die heilige Stimmung zerstören, zumal ihn dann die strengste Strafe erwartete: Wer seine Ungeduld nicht zügeln konnte und einen Fehlstart verursachte, wurde unbarmherzig mit Rutenhieben bestraft und, als der hohen Feier unwürdig, des Platzes verwiesen.
Endlich gab es das Zeichen zum Start. Fotis lief mit mächtigen Schritten los, als ginge es um sein Leben. Sogleich führte er das Feld mit einem Vorsprung an, der unaufhaltsam größer zu werden schien. Als erster erreichte er die Wendemarke und lief den anderen entgegen, ja, nach fünf Stadien überholte er bereits die letzten der Läufer!
Auch Spiridos, der mit leichten, aber schnellen Schritten mit Abstand das Feld der Verfolger anführte, lag nach acht Stadien bereits eine ganze Bahn zurück. Auch nach zwölf Stadien umrundete er soeben die Wendemarke am einen Ende, während Fotis bereits die am anderen erreicht hatte. Auch nach 15 Stadien hatte sich kaum etwas daran geändert, nur dass die anderen Läufer noch weiter abgeschlagen hinter den beiden ersten herliefen.
Dann aber fing Spiridos langsam an aufzuholen, mit jeder Laufbahn etwas mehr. Die Zuschauer bemerkten dies sofort, vergaßen jede vornehme Zurückhaltung und fingen an, den zweiten, den schmächtigen, den barfüßigen Bauernsohn anzufeuern, zu brüllen, ihm zuzujubeln.
Spiridos schien aber davon kaum etwas zu bemerken. Kein Lächeln lag auf seinem Gesicht, auch keine Anstrengung. Während seine Füße im Lauf den Staub der Erde aufwirbelten und ihn die Bahn hinauf und hinab trugen, blickte er wie entrückt in die Ferne. Woran mochte er wohl denken – vielleicht an die Geschwister daheim, oder an die Eltern? Vielleicht an den Vater, der über das karge Feld den Pflug führte, hin und her, hin und her, wie immer schon, unermüdlich?
Kaum dreißig Schritte, nachdem Fotis die letzte Bahn erreicht hatte, umrundete auch Spiridos die Wendemarke. Mit jedem Schritt schien er nun um einen ganzen Fuß näher zu kommen. Die Ziellinie lag in der flimmernden Luft vor den Läufern. Immer näher und näher schob sich Spiridos heran. Die Menschen standen auf und verstummten plötzlich. Völlige Stille breitete sich aus. Man hörte eine Biene summen. Lavendelduft lag in der Luft. Und dann war es, als ob die Götter selbst den Atem anhielten. Noch fünf, noch vier, noch drei Schritte – und dann, mit demselben Wimpernschlag, erreichten beide die Rillen am Anfang und Ende der Laufbahn, mit dem gleichen Schritt, dem gleichen Fuß. Es gab nicht einen großen Zeh Vorsprung, nicht einmal einen Zehennagel!
Fotis sank erschöpft in die Knie, auch Spiridos blieb gebückt stehen, schwer atmend. Alle warteten wie gebannt, die Kampfrichter waren wie erstarrt: So etwas war noch niemals dagewesen, die Götter mussten, sie konnten nur einen zum Sieger erwählen!
Wie im Traum schien die Zeit still zu stehen, da sah man plötzlich eine Bewegung: Spiridos ging die wenigen Schritte zu Fotis, reichte ihm die Hand, zog ihn hoch, führte ihn zu den Kampfrichtern und sagte, mitten in die mächtige Stille hinein:
„Diesem gebührt der Sieg,
denn keiner war im Laufe vor ihm.“
Da nahmen die Priester den Kranz aus Zweigen vom heiligen Olivenbaum neben dem Tempel des Zeus und drückten ihn dem Fotis ins Haar und ein tosender Jubel hob an: Dieses Rennen, diesen Lauf für die Götter würde wohl niemand jemals vergessen, der dabei gewesen war!
Die Hellenen aber wären keine Hellenen gewesen, wenn sie in die Jubelrufe nicht nur den Sieger eingeschlossen hätten, sondern auch Spiridos, den Sieger der Herzen.
Fotis kehrte nach Athen zurück als gefeierter Held, sein Name war in aller Munde – bis es bei den nächsten Olympischen Spielen die nächsten Sieger gab.
Spiridos aber kehrte in die Heimat als Sohn eines Bauern zurück, der einen Freund gefunden und aus innerer Stärke heraus gehandelt hatte, als alle anderen wie gelähmt waren.
Seinen Namen kennt in Lefkas heute noch jedes Kind.