14. Jun 2011

Klassenfahrt nach Ciotto

In heutigen Zeiten, in denen das Wissen der Welt für jedermann kaum mehr als ein paar Mausclicks entfernt und auch fernere Urlaubsziele fast für jedermann erreichbar scheinen, kann man sich fragen, was Schule eigentlich vermitteln oder wozu Klassenfahrten gut sein sollen. In der achten Klasse an der Waldorfschule wird, vorm Sprung in die Oberstufe, ohnehin manches in Frage gestellt – aber vieles erscheint auch wie ein Höhepunkt nach einer langen, wie die Ernte nach einer, wenn es gut gegangen ist, fruchtbaren gemeinsamen Zeit.

Mit der achten Klasse erreichen die Kinder nämlich – einzeln in der Gemeinschaft – eine Schwelle, an der sich neue Blicke in eine neue Landschaft eröffnen. Es ist dies die Seelenlandschaft. Die Aufgabe des Waldorflehrers ist es lediglich, wie von der ersten Klasse an, das Kind an echte Bilder, an Urbilder heranzuführen, an echte Gefühle in der Seele, die danach sucht, sich danach sehnt, die darum ringt, endlich zu sehen, mit eigenen Augen, im eigenen Herzen.

Manches hilft bei diesem manchmal polterigen Durchstoßen in neue Sphären, bei dieser Geburt: das Klassenspiel, als einzigartiges Seelen-Übfeld mit Lachen und Weinen, Erschrecken, Verliebtsein, Dramatik und Besinnlichkeit; die Jahresarbeiten als Tat, als Werk, als Schöpfung jedes Einzelnen; die Klassenfahrt, als Grenzerlebnis: Was halte ich aus? Kann ich mich überwinden, steigern, kann ich durchhalten, Gemeinschaft aushalten, verschiedenste Landschaften, eben auch seelische, selber begreifen? Und vor allem: erlebe ich dies alles wirklich, real, nicht als vorgestellten Traum, als Trug- und Abziehbild, gefiltert durch ein Medium, abgelöst, konserviert, nur technisch abgespult, re-produziert?

Viele Grenzerlebnis-Achtklass-Fahrten lassen sich denken, von der Überquerung eines Alpenpasses bis zum Segeltörn – und demgegenüber steht das alterstypische Bedürfnis, einfach nur zu „chillen“, der deutlich formulierte Wunsch, mit der Klasse einmal einen schönen Strandurlaub am Mittelmeer zu machen, einfach so, ohne Anspruch und Programm, Bildung und Belehrung.

Für die 8b im letzten Schuljahr ergab sich eine Herausforderung anderer Art: Zehn Tage lang sollte es gelten, es mit 36 andern Menschen in einer Bergsiedlung auszuhalten, in der es weder fließend warmes Wasser noch Elektrizität noch eine Straße bis zur Haustür gab. Mit gemischten Gefühlen begannen wir die Unternehmung – und kehrten mit vielen Erfahrungen zurück, zu denen auf jeden Fall das Erstaunen zählte, das alles doch „so ging“.

Die Bergsiedlung Ciotto lag auf der Karte gar nicht sehr weit vom nächsten Dorf mit Bahnstation entfernt, aber die steinernen und steingedeckten Häuser befanden sich nicht nur in einem dichten Esskastanienwald, in dem man sich gleich nach der Ankunft verlaufen konnte, sondern alles war eindeutig an einem steilen Hang gebaut, so dass man ständig das Gefühl hatte, steil bergauf oder steil bergab zu laufen. Vor allem musste sämtliche Verpflegung täglich aus dem Dorf herauf (und der Müll wieder hinunter...) geschleppt werden. Wer nun weiß, wie viel ein einzelner Achtklässler am Tag verdrücken kann, ahnt, dass von dem Vorsatz, durch Eigenarbeit ganz viel zum Erhalt und zur Verschönerung des Quartiers beizutragen, wenig übrig blieb: Die meiste Zeit waren wir damit beschäftigt, für das Nötigste zu sorgen, zum Beispiel außer für das Essen ebenso für ein ständiges Herdfeuer, weil damit das Wasser für eine Draußendusche unterm Feigenbaum leidlich angewärmt werden konnte. Außer dieser einen Dusche gab es zwei Waschtröge in einer Art Kellergewölbe und zwei (2!) Toiletten, mit Wasserspülung immerhin, für beinah vierzig Menschen!

Bei Wanderungen bis hinauf zum Schnee am Gipfel, beim Holzhacken, beim Erdeschaufeln oder Steinestapeln kamen alle ins Schwitzen, sogar beim Unkrautjäten oder nur beim Sitzen unter einer Sonnenplane, denn Italien zeigte sich hochsommerlich in diesem Frühjahr. Und es war echt italienisch, inklusive der abendlichen Besuche der Dorfjugend (die sprachen wirklich kein Deutsch!), der malerischen Gassen, der Palmen, der Esel und des Sonnenlichts am Tage oder der Sternenhimmel in der Nacht.

Wie von selber fanden manche sich am Bergbach spielend wieder und entdeckten das frische Quellwasser oder Eidechsen oder Adler und Murmeltiere. Einzelne erwanderten die ersehnten Felsenkletter-Möglichkeiten. Ohne viele Worte versammelten sich die Richtigen am Lagerfeuer, andere lauschten der Gitarre oder sangen selber, wieder andere lagen nächtens unter freiem Himmel, statt in einem der nur zwei Schlafsäle. Und dann entdeckten wir am vorletzten Tag auch noch, dass man zum Baden nur zum Fluss ins Tal gehen musste und sich dort fast fühlen konnte wie am Mittelmeer.

Nicht verschwiegen werden soll es, dass außer Schweiß auch Blut floss, dass es Blasen an Füßen und Händen gab, Übelkeit und Sonnenstich, Müdigkeit und Meckereien, Erschöpfung und Heimweh. So gesehen war es eine ganz normale Klassenfahrt und all die kleinen Dinge waren eigentlich nichts besonderes, aber zusammengenommen, als Ganzes, in der Gemeinschaft erlebt konnte jeder Einzelne nach zehn geradezu verflogenen Tagen deutlich spüren, dass Grenzen überwunden worden waren und man die Erfahrung mit nach Hause nahm, etwas meistern zu können, was vielleicht am schwersten ist, nämlich: die Herausforderungen des Alltagslebens.

Text: Stefan Warnek · Fotos: Rebekka Weckesser